Die Kiewer Rus

Wladimir-Statue (1853) in Kiew am Dnepr; hier wurde die Rus nach der Legende christlich-orthodox getauft. – Bild: YuriiT / Shutterstock.com

Das heutige Russland hat seine Wurzeln in der Wikingerzeit.

Die schwedischen Wikinger unter Führung ihres Fürsten Rjurik gründeten mit der Kiewer Rus den Vorläufer des modernen russischen Staates.

Die Rurikiden, die Nachkommen Rjuriks, sollten noch bis 1598 über Russland herrschen – seit 1478 als Zaren von Russland.

1. Wikinger an der Wolga

Die als Waräger bekannten schwedischen Wikinger betrieben regen Handel in der Ostsee.

Im Zuge ihrer Handelsaktivitäten erreichten sie die Wolga.

Die Waräger verkauften Wachs, Sklaven, Felle und Walrosselfenbein nach Konstantinopel.

Im Gegenzug erhielten sie Seide und orientalische Gewürze von den Byzantinern.

An der Wolga kamen die Waräger auch mit arabischen Händlern in Kontakt.

Die schwedischen Wikinger beherrschten den Handel zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.

Dort gründeten sie einen neuen Staat – die Kiewer Rus.

2. Die Geburt Russlands

Um die Mitte des 8. Jahrhunderts herum hatten die Waräger in Ladoga (östlich von St. Petersburg) ihre erste Siedlung im heutigen Russland gegründet.

Ein Jahrhundert später baten laut der Nestorchronik mehrere slawische Stämme die skandinavischen Brüder Rjurik, Truwor und Sineus um Hilfe.

Im Jahr 862 wurde Rjurik zum Fürsten von Nowgorod, Truwor zum Fürsten von Isborsk sowie Sineus zum Fürsten von Belosersk ausgerufen.

Truwor und Sineus starben bereits 864 und Rjurik wurde zum Alleinherrscher.

Der von Rjurik begründete Wikinger-Staat ging als Kiewer Rus in die Geschichte ein.

Wie der Name „Rus“ es schon andeutet, handelt es sich dabei um den Vorläufer des modernen Russlands.

3. Rjurik

Mit Rjurik beginnt im Jahr 862 die russische Geschichte.

Vieles über sein Leben ist jedoch nicht bekannt. Man weiß weder, wann er geboren wurde, noch, wer seine Eltern sind.

Er soll um 830 das Licht der Welt erblickt haben. Teilweise wird sogar in Frage gestellt, ob er wirklich existiert hat.

Eine Theorie besagt, dass sich hinter Rjurik der dänische Wikinger Rörik von Dorestad (820 – 873) verbirgt. Es fehlt jedoch an eindeutigen Belegen, die diese These stützen.

Bis zu seinem Tod im Jahr 879 herrschte Rjurik über das Fürstentum Nowgorord.

Er gilt als der Begründer der Rurikiden-Dynastie, die bis 1598 in der Kiewer Rus und in deren Nachfolgestaaten regierte.

4. Oleg

Ab 879 fungierte Oleg als Regent für Igor, den unmündigen Sohn Rjuriks.

Oleg wurde von seinem Schwager Rjurik als Vormund für Igor auserkoren.

In seiner Regierungszeit wurde die Hauptstadt des Fürstentums von Nowgorod in das namensgebende Kiew verlegt.

Nachdem die Byzantiner einen Giftanschlag auf Oleg verübten, erklärte er 907 Konstantinopel den Krieg.

Er tauchte mit seiner Armee vor den Toren der byzantinischen Hauptstadt auf und wirkte offenbar so einschüchternd, dass sich das Byzantinische Reich zur Tributzahlung bereit zeigte.

Einschränkend muss man jedoch sagen, dass dieser Krieg nur in den russischen Quellen erwähnt wird. In den griechischen Chroniken herrscht darüber Schweigen.

Oleg starb zwischen 912 und 922 und übergab die Herrschaft an Igor.

5. Swjatoslaw I.

Unter Swjatoslaw I. (943 – 972), dem Sohn Igors, erlebte die Kiewer Rus eine gewaltige Expansion.

Swjatoslaw I. war gerade einmal zwei Jahre alt, als sein Vater ermordet wurde.

963 wurde er für mündig erklärt und begann mit seiner Selbstregierung.

Danach nahm er das am Kaspischen Meer gelegene Reich der Chasaren ins Visier.

Noch vor Ende der 960er-Jahre hatte er das Chasaren-Reich vollständig erobert.

Im Jahr 967 fiel Swjatoslaw I. mit seiner Armee in Bulgarien ein und fügte den Bulgaren in der Schlacht von Silistra im Frühjahr 968 eine verheerende Niederlage zu.

Im Sommer 969 kehrte Swjatoslaw I. nach Bulgarien zurück und machte den bulgarischen Zaren Boris II. zu seinem Vasallen.

Aber im Jahr 971 begann eine byzantinische Großoffensive und Swjatoslaw I. sah sich zum Rückzug aus Bulgarien gezwungen.

Swjatoslaw I. geriet während des Rückzuges in einen Hinterhalt und wurde 972 erschlagen.

6. Belagerungen von Konstantinopel

Trotz reger Handelsbeziehungen befanden sich die Kiewer Rus und das Byzantinische Reich mehrere Male im Kriegszustand.

Im Jahr 860 verwüsteten die Truppen der Kiewer Rus das Umland von Konstantinopel. Aus unbekannten Gründen zogen sie sich aber wieder zurück.

Dabei profitierten sie davon, dass das Byzantinische Reich in Kleinasien vom Kalifat der Abbasiden bedroht wurde.

Im Jahr 907 belagerte Fürst Oleg die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel und setzte einen vorteilhaften Handelsvertrag für die Kiewer Rus durch.

Diesem bewaffneten Konflikt ging laut russischen Quellen ein byzantinischer Mordanschlag auf Oleg voraus.

944 oder 945 bedrohte eine gewaltige Flotte der Kiewer Rus Konstantinopel. Unter diesem Druck stimmte das Byzantinische Reich einem Friedensvertrag zu.

7. Wladimir I. und der Übertritt zum Christentum

Wladimir I. (960 – 1015) setzte sich in einem Machtkampf gegen seine älteren Brüder Oleg (955 – 977) und Jaropolk I. (952 – 980) durch und wurde 980 Fürst der Kiewer Rus.

Die unter seinem Vater Swjatoslaw I. begonnene Expansion setzte Wladimir I. fort. In seiner Regierungszeit erstreckte sich das Fürstentum von der Ostsee bis zum Dnepr.

Im Zuge von Bündnisverhandlungen mit dem byzantinischen Kaiser Basileios II. (958 – 1025) konvertierte er im Jahr 987 zum orthodoxen Christentum.

Im Gegenzug erlaubte ihm der Kaiser die Heirat mit der byzantinischen Prinzessin Anna (963 – 1011).

Unter Wladimir I. und Anna setzte sich das orthodoxe Christentum in der Kiewer Rus als Staatsreligion durch.

Daher gilt er sowohl in der russisch-orthodoxen als auch in der ukrainisch-orthodoxen Kirche als Heiliger.

Im Jahr 1015 starb Wladimir I. von Kiew.

8. Die Warägergarde

Während der Verhandlungen zwischen Wladimir I. von Kiew und Kaiser Basileios II. ging es 987 und 988 um die militärische Unterstützung des Byzantinischen Reiches durch die Kiewer Rus.

Basileios II. befand sich im Kriegszustand mit Bulgarien, das gleichermaßen ein Feind der Kiewer Rus war.

Im Zuge der Vereinbarung schickte Wladimir I. 6000 Waräger nach Konstantinopel, wo sie ab 988 die Warägergarde bildeten.

Letztere stellte die Leibgarde des byzantinischen Kaisers dar und galt als besonders loyal.

Vor seinem Aufstieg zum König von Norwegen gehörte Harald Hardråde (1015 – 1066) der Warägergarde an.

Als Kreuzritter aus dem katholischen Westen im Jahr 1204 Konstantinopel eroberten, leistete die Warägergarde hartnäckigen Widerstand. Dennoch wurde die byzantinische Hauptstadt von den Kreuzrittern erobert.

9. Jaroslaw I.

Nach dem Tod Wladimirs I. brach in der Kiewer Rus 1015 ein Erbfolgekrieg aus.

In diesem setzte sich 1019 schließlich Jaroslaw I. (978 – 1054) durch.

Im Jahr 1036 bannte Jaroslaw I. endgültig die Gefahr, die vom Reitervolk der Petschenegen ausging.

Er etablierte die Dynastie der Rurikiden im europäischen Hochadel.

Seine Töchter waren mit den Königen von Norwegen, Ungarn und Frankreich verheiratet. Und Herzog Kasimir I. von Polen (1016 – 1058) war der Schwager des Fürsten von Kiew.

Die Russkaja Prawda, die als erstes Dokument die Gesetze der Kiewer Rus zusammenfasst, geht auf Jaroslaw I. zurück. Hierfür erhielt er den Beinamen „der Weise“.

Jaroslaw I. starb im Jahr 1054.

10. Die Rurikiden bis 1598

Die Kiewer Rus ging zwar 1240 im Zuge des Mongolensturms unter, doch die Nachkommen Rjuriks konnten ihre Herrschaft im Fürstentum Moskau fortsetzen.

Im Laufe der Zeit gelang es den Moskauer Fürsten, die Herrschaft der Mongolen zu beenden und die Grundlage für den modernen russischen Staat zu schaffen.

Großfürst Iwan III. von Moskau (1440 – 1505) heiratete 1472 eine Nichte des letzten byzantinischen Kaisers und erklärte sich 1478 zum ersten Zaren von Russland.

Nach dem Untergang des Byzantinischen Reiches erhob Moskau den Anspruch, das „Dritte Rom“ zu sein.

Der letzte Nachkomme Rjuriks auf dem russischen Thron war Zar Fjodor I. (1557 – 1598).

Mit seinem Tod im Jahr 1598 starb nach 736 Jahren die Dynastie der Rurikiden aus.